Unsere Tochter zieht aus

Annika wurde 1983 geboren und entwickelte sich bis zum Alter von 10 Monaten nahezu normal.

Danach folgte ein plötzlicher Entwicklungsstillstand und niemand wusste warum. Ärzte vertrösteten mich oder sie suchten die Schuld bei mir, der Mutter. Einige Monate später verlor Annika einen Teil ihrer bereits erworbenen Fähigkeiten und die wenigen Worte, die sie bis dahin gesprochen hatte. Die sinnvolle Handfunktion ging verloren und stereotype Handbewegungen begannen.

Im Alter von vier Jahren wurden diese stereotypen Handbewegungen zum ersten Mal als ein typisches Merkmal des Rett-Syndroms – einer komplexen Behinderung – erkannt. Das Rett-Syndrom zählt zu den Autismus-Spektrum-Störungen und wird durch eine genetische Mutation verursacht.

Annika wird ihr ganzes Leben lang in allen Bereichen Betreuung und Pflege benötigen und ist somit rund um die Uhr auf Unterstützung angewiesen. Sie geht mit großer Begeisterung in die Tagesförderstätte der Lebenshilfe, weil sie durch die Schwere ihrer Behinderung nicht in der Lage ist, in einer WfbM (Werkstätte für behinderte Menschen) zu arbeiten.

In Anbetracht dessen, dass Annika (*1983) nicht „von alleine“ aus dem Elternhaus ausziehen und ihren eigenen Weg gehen kann, musste ich mir immer wieder bewusst machen, dass wir Eltern uns nicht selbst lebenslang um sie kümmern können.

Leider musste ich bei meinen ersten Erkundigungen feststellen, dass Menschen mit hohem Hilfebedarf und komplexen Behinderungen wenig bzw. keine Wahlfreiheit beim Wohnen haben und die vorhandenen Angebote für Annika nicht geeignet waren.

So begann die Geschichte im Jahr 2006. Annika war 23 Jahre alt.

Foto: Medienhaus Main-Echo / Björn Friedrich

Die vielen Wege, Irrwege, bürokratische Hürden und anderen Hindernisse in den ganzen Jahren bis zum Auszug aus dem Elternhaus möchte ich außen vor lassen, denn das Gefühl, jahrelang gegen Wände zu reden und zu rennen, war zermürbend. Wir mussten bei diesen Gesprächen viel Überzeugungsarbeit leisten und beständig um Unterstützung bitten.

Unser Ziel war, dass unsere vier Töchter mit Komplexer Behinderung in einer kleinen Wohngemeinschaft ambulant unterstützt wohnen und dafür jeden Tag individuelle und bedarfsgerechte Hilfen rund-um-die-Uhr erhalten.

Die Finanzierung der Wohngemeinschaft erfolgt über ein so genanntes „Trägerübergreifendes Persönliches Budget“. In unserer Region ist der Sozialhilfeträger Ansprechpartner für die Finanzierung der Leistungen für Betreuung, Teilhabe und Pflege. Das Prinzip der „Leistungen wie aus einer Hand“ soll damit realisiert werden, auch wenn mehrere Kostenträger von Eingliederungshilfe, Pflegekasse, Krankenkasse und Sozialhilfe beteiligt sind. Die Bürokratie kostet dennoch unglaublich viel Zeit und Nerven.

Für unsere Töchter werden Teilhabe und Betreuung in der WG durch die Lebenshilfe-Miltenberg geleistet; die Pflegeleistungen werden teilweise von der Caritas-Sozialstation übernommen. Tagsüber gehen unsere Töchter weiterhin in die Tagesförderstätten, die sie schon seit Jahren besuchen.

Dieses Ziel zu erreichen, stellte uns Eltern vor unfassbare Schwierigkeiten, die wir neben der langjährigen Betreuung und Pflege unserer Töchter bewältigen mussten. Kaum jemand glaubte an die Umsetzung unserer Idee und nur ein einziger Mensch unterstützte uns auf professionelle Weise mit seinem Wissen und seinem Engagement von Anfang an auf diesem Weg. Ich bin Kurt Heuß, Wohnstättenleiter der Lebenshilfe-Miltenberg, dafür sehr dankbar.

Die entscheidende Wende kam jedoch erst, als die bayerische Landtagspräsidentin a. D. und 1. Vorsitzende des Lebenshilfe-Landesverbandes Barbara Stamm die Schirmherrschaft für unser Wohnprojekt übernommen hatte. Das hat wesentlich dazu beigetragen, dass wir unser Wohnprojekt politisch durchsetzen und damit auch in die Praxis umsetzen konnten.

Der Lehrstuhl für Pädagogik bei Geistiger Behinderung in der Universität Würzburg, begleitet und erforscht das Wohnprojekt wissenschaftlich in den nächsten drei Jahren.

Im Sommer 2019 fanden wir nach langer Suche endlich ein passendes Objekt, in dem eine Wohnung für den Bedarf unserer Töchter geplant werden konnte. Auch hier gab es wieder große Schwierigkeiten, bis der Mietvertrag abgeschlossen werden konnte. Danach waren wir wieder einen großen Schritt weiter. Diese Zeit war voller Vorfreude auf das Einrichten der eigenen Zimmer und der großen Wohnküche.

Dann kam Corona und damit weitere Verzögerungen, die uns abwechselnd zwischen erzwungener Untätigkeit und hektischen Aktivitäten pendeln ließen. Ich schwankte zu dieser Zeit monatelang zwischen Euphorie und Panik.

Es war ein langer und schwieriger Weg und ich kann immer noch nicht richtig glauben, dass wir dieses große Etappenziel erreicht haben. Ich fühle mich zwar ziemlich müde und abgekämpft, aber wir sind angekommen.

15 Jahre nach meinen ersten Aktivitäten für selbstbestimmte Wohnformen für Menschen mit komplexer Behinderung, neun Jahre nach Gründung der IG-Inklusives-Wohnen und sieben Jahre nach dem ersten Termin mit dem Kostenträger ist Annika im Mai 2021 in „ihre“ WG eingezogen.

Positiv empfunden habe ich dass ich die erste Nacht in der WG bleiben konnte, damit sie sich beim Wachwerden nicht so fremd fühlt.

Das Zurücklassen von Annika in der WG fühlte sich für mich sehr seltsam an – als würde ich sie im Stich lassen. Theoretisch wusste ich, dass es nicht der Fall ist, aber das Herz geht manchmal andere Wege als der Kopf.

Einen Tag später habe ich mit der WG telefoniert und erfahren, dass Annika gut isst und trinkt und dass ihre Bezugsbetreuerin einen DVD-Player mitgebracht und ein Konzert von den Toten Hosen. Annika war begeistert (und ich auch).

Dennoch muss ich mich in vielen Bereichen immer wieder zur Gelassenheit ermahnen. Auch jetzt noch.

Es ist alles nach wie vor noch etwas ungewohnt für uns alle und es wird sicher dann und wann noch etwas holpern, aber der erste Schritt ist gemacht und die Menschen um sie herum sind fachlich und menschlich engagiert und sehr herzlich.

Meine Zwischenbilanz nach genau einem Monat: der jahrelange Kampf hat sich gelohnt! Annika ist inzwischen gut in ihrer WG angekommen und sie fühlt sich dort sehr wohl. Es tut so gut, wenn ich sie dort mit ihren strahlenden Augen sehe und sie glucksend lachen höre. Auch die Rückmeldungen aus ihrer Tagesförderstätte sind bisher positiv.

Ich habe das Gefühl, Annika gefällt es in der etwas quirligen WG oftmals besser als zu Hause. Sie freut sich, wenn wir kommen und sie freut sich genau so sehr, wenn sie ihr neues Umfeld sieht. So soll es sein und ich hoffe sehr, dass es so bleibt. Aber Herzklopfen habe ich immer noch oft.

Durch das langwierige Engagement für das Projekt hatte ich kaum Zeit, mich selbst auf das – wie es so schön heißt – „Loslassen“ vorzubereiten. Dennoch können wir Eltern die ungewohnt üppige freie Zeit und die Chance für gemeinsame spontane Unternehmungen sehr genießen.

Inzwischen weiß ich, dass es für mich nur schwierig wird, wenn es für Annika schwierig ist. Wenn es ihr in der WG gut geht, dann kann sie ihren eigenen Weg in der für sie möglichen Selbstbestimmung gehen – und ich kann sehr gut loslassen, wenn die Bedingungen für Annika passen.

Brisant ist für mich immer noch, dass Menschen mit komplexen Behinderungen und hohem Hilfe und Betreuungsbedarf nach wie vor kaum eine Wahlmöglichkeit haben, wo und mit wem sie wohnen wollen. Jede kleine Gruppe muss alleine für ihr eigenes Wohnprojekt kämpfen, während gleichzeitig der Eindruck entsteht, dass nur wenig politisches und öffentliches Interesse an einem Fortschritt bei der Inklusion von Menschen mit komplexen Behinderungen besteht.

Eltern, die durch die jahrzehntelange Pflege und Betreuung ihrer schon erwachsenen Kinder enorme Belastungen tragen, werden durch diese Kämpfe zermürbt und ich frage mich, was machen eigentlich Eltern – insbesondere allein erziehende Elternteile -, wenn sie nicht mehr können?

Es ist unbedingt erforderlich, dass diese z. T. absurden bürokratischen Hürden abgebaut werden und der jeweils individuelle Bedarf des behinderten Menschen transparent ermittelt, anerkannt, abgedeckt und nicht immer wieder in Frage gestellt wird.

Es muss möglich sein, dass Menschen mit hohem Hilfe- und Betreuungsbedarf die erforderliche Unterstützung erhalten, um genau so wohnen können wie andere Menschen in ihrem Alter, also auch in eigener Wohnung oder in einer Wohngemeinschaft. Dies wäre ein großer Schritt in Richtung Inklusion.

Inge Rosenberger im Juni 2021

Foto: Medienhaus Main-Echo / Björn Friedrich
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